Der Abschied aus Istanbul fiel mir nicht besonders schwer. Auch wenn das Stadtviertel, in dem ich war, einige schöne Ecken hatte, waren mir weitaus zu viele Menschen unterwegs. Eigentlich wollte ich direkt mit dem Fahrrad den Bosporus überqueren, hatte aber nach kürzester Zeit festgestellt, dass nur Autobahnen zur anderen Seite und Radfahren darauf verboten ist. Schweren Herzens ging es also auf die Fähre, auch wenn andere sich gerne den Nervenkitzel geben, mit dem Fahrrad über die Autobahn zu brettern, in der Hoffnung nicht erwischt zu werden, war mir das zu unangenehm.
Der Weg aus Istanbul ist gar nicht so leicht, wie man sich das vorstellt, zumindest wie ich mir das vorgestellt hatte. Grund dafür ist ganz einfach die schiere Größe Istanbuls. So dauerte es schon allein bis Mittags, bis ich mit der Fähre auf der anderen Seite des Bosporus, in Asien angekommen bin. Auf dem weiteren Weg machte ich noch kurz Stop in einem Decathlon, ohne jedoch was zu kaufen und fuhr dann weiter bis kurz vor Maltepe, wo ich mal wieder zum Essen und Tee von zwei Taxifahrern eingeladen wurde.
Als ich kurze Zeit später bei Pendik angekommen bin, war es schon kurz vor Acht und ein Blick auf die Karte zeigte mir – aus der Stadt komme ich heute nicht mehr hinaus. So schlug ich frecherweise mein Zelt direkt auf der Strandpromenade auf. Um genauer zu sein, war meine Absicht noch darauf zu warten, dass die restlichen Menschen sich verabschiedeten und ich in der Zwischenzeit mein Buch weiter lese. Dummerweise sind es statt weniger, immer mehr Menschen geworden.
So war bei meiner Ankunft gerade mal eine Familie auf dem anliegenden Spielplatz und gelegentliche Fußgänger und Sportler auf den Wegen unterwegs, gesellten sich mit der Zeit immer mehr Familien zum Picknick mit dazu. Um Zehn war die ganze Wiese voll mit Decken, Teekochern und herumtollenden Kindern. Nachts um Eins baute ich dann endlich mein Zelt auf, obwohl immer noch Menschen unterwegs waren. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte….
Das zweite Problem an der Fahrt aus Istanbul ist, man scheint hier nicht an Fahrradfahrer gedacht zu haben, denn fast alle Straßen die nach Osten führen, führen nach und nach auf Autobahnen. Auf Höhe Dilovasi war es dann schließlich soweit und ich sah keine weitere Möglichkeit mehr, als auf die Autobahn auszuweichen, wo ich bis Körfez auch drauf blieb.
In Kocaeli angekommen wollte ich der Erfahrung des gestrigen Tages folgen und wieder in einem Park übernachten, aber keine viertel Stunde, nachdem ich mein Zelt in einem Pinienwald innerhalb des Parks aufgeschlagen hatte, standen auch schon drei Parkwächter vor mir, denen ich ansehen konnte, dass sie mich gerne da lassen würden, dies aber nicht durften.
Aus war der Traum und so führte mich mein Weg weiter, obwohl es schon dämmerte und ich mit Kocaeli noch ein Konglomerat aus Städten und Dörfern vor mir hatte.
Den Platz für die Nacht fand ich dann viel zu spät und war auch dementsprechend unangenehm. Kurz nach Kartepe, südlich der südlichen Autobahn, an einem abfallenden Hang mit kniehohen Gras, anfangendem Regen und Mücken soweit das Auge reicht, baute ich dann schlagend, juckend und fluchend mein Zelt auf. Zu dem Zeitpunkt hatte ich von der Türkei die Schnauze voll! Die Landschaften waren bis zu dem Zeitpunkt nicht schön, keine guten Zeltplätze, dauernd umschwirrt von Mücken, dazu die unendlich große Metropolregion Istanbul, die mir mit ihrem Verkehr und Menschenmassen so unglaublich auf den Senkel gegangen ist. Natürlich gab es auch positive Punkte, wie die überbordende Gastfreundschaft und die tollen Sehenswürdigkeiten der Stadt, doch zu dem Zeitpunkt war ich echt genervt.
Am nächsten Tag schien der Weg genauso weiter zu gehen, wie die Tage zuvor, darum konnte ich nicht anders als von der eigentlichen Route einfach abzubiegen. Dieses ganze Vorstadtgekurve, egal ob mit oder ohne Radweg, habe ich nicht mehr ausgehalten.
In Sapanca ging es dann ab nach Süden, den Bergen entlang weiter, durch nichtssagende Dörfchen, wie Fevziye und Adliye. Es gab nicht viel zu sehen und auch nicht allzu viele Höhenmeter, dafür aber wirklich steile Abschnitte. Es war echt anstrengend, aber zum ersten Mal seit vielen Tagen machte das Radeln endlich wieder Spaß. So wird es auch nicht verwundern, dass ich vorerst so weiter gemacht habe. Auch wenn es an dem Tag nur wenige Kilometer waren und ich nur bis nach Beldibi gekommen bin, hatte ich zu dieser Nacht zum ersten Mal einen schönen Campspot in der Türkei, direkt am Fluss auf einer Landzunge, so dass ich auf drei Seiten, vom “White Noise” des Flussrauschens, in den Schlaf gewiegt wurde.
Am nächsten Morgen ging es, aufgrund des Mangels an Alternativen, auf der Hauptstraße weiter, bis nach Dokurcun und von dort über die Landstraße am Karamuratsee vorbei bis nach Taskesti. Hier sollten eigentlich ein paar tolle Bilder zeigen, wie schön die Strecke ist und ich bin mir auch sicher, ich hab welche gemacht, doch ich finde keine… EinBILDung ist halt doch keine wahrhafte BILDung…. Aber zumindest hab ich ein Bild von einem unfertigen Neubaugebiet und einen Ausblick auf Taskesti gefunden 😄
Obwohl ich zu dem Zeitpunkt ein richtiges Hoch hatte, und die Mirabellenbäume auf der weiteren Strecke mit ihren süßen, reifen Früchten dies noch gesteigert hatten, kam keine Stunde später der totale Abfall und einer der schlimmsten Momente meiner bisherigen Reise.
Ich fühlte mich irgendwie nicht wohl, hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend und obwohl es erst früher Nachmittag war, hielt ich schon Ausschau für ein Nachtlager, was zum Glück auch bald gefunden war. Kaum hatte ich das Rad abgestellt und mich hingesetzt, machte sich der Magen auch schon richtig bemerkbar. Durchfall!
Nicht nur das, mir ging es plötzlich richtig dreckig. Mir war schwindelig, mein Magen drehte sich gleichzeitig in alle Richtungen, krampfte sich alle paar Sekunden zusammen, ich fror und schwitzte zugleich, und nach dem Auspacken meines ersten Hilfe Kits stellte ich fest, über 39°C Fieber, ganz schlecht!
Kurze Zeit später war das Zelt, wenn auch recht schlampig, aufgebaut und ich lag frierend und schwitzend, zum ersten Mal seit Ewigkeiten im dicken Schlafsack, das Klopapier direkt neben mir liegend und es passierte, was passieren musste: Sturm!
Nachdem ich in einen fieberhaften, aber dennoch relativ tiefen Schlummer gefallen bin, wachte ich zu einem bereits sehr dunklen Moment der bereits herein gefallenen Nacht auf, der Magen am Durchdrehen und ich muss unbedingt raus! Zum gleichen Zeitpunkt stellte ich fest, dass etwas weiteres nicht ganz in Ordnung ist, irgendwie schaut das Zelt nicht so aus, wie ich es in Erinnerung hatte, und komischerweise hatte ich das Gefühl, dass es etwas feuchter ist als normal.
Ein Sturm war aufgekommen und drückte mir die nasse Zeltwand direkt in das Gesicht. Die Heringe auf der einen Seite des Außenzelts waren vom Wind herausgezogen und eben dieses zu einem Viertel über das Innenzelt gestülpt. Ebenfalls hat sich der Hering, direkt links meines Kopfs, vom Innenzelt gelöst. So drohte das ganze Zelt nun aus dem Boden gerissen zu werden, der Regen ging natürlich ebenfalls komplett durch das Mesh des Innenzelts durch, der Wind riss wie verrückt immer weiter am Zelt, so dass ich nicht umhin gekommen bin, das Zelt von innen festzuhalten, wozu ich wirklich Kraft anwenden musste und gleichzeitig drückte und schmerzte es in meinem Unterleib gewaltig.
So lag ich knapp eine Stunde im Zelt. Eine Hand fixierte das Zelteck auf Kopfseite, die andere hielt den Bauch und die Fußspitze fixierte das Zelt am gegenüberliegenden Eck, bis der Sturm endlich nachließ und ich schnell und voller Genugtuung mein Geschäft erledigen konnte. Im Anschluss befestigte ich das Zelt neu und legte den Innenraum, so gut wie möglich, mit einem Handtuch trocken.
Am nächsten Morgen war der Alptraum vorbei. Es war zwar immer noch trüb, neblig und für die Verhältnisse der letzten Wochen und Monaten recht frisch, aber das Fieber war weg, sowie das Drücken im Magen. Es ging also weiter, und somit auch weiter bergauf. Auf dem Weg zur nächsten Passüberquerung löste sich auch nach und nach der Nebel auf und auch die Landschaft änderte sich zum überaus positiven und trotz der schrecklichen letzten Nacht stieg meine Laune immer weiter.
Gefühlt fing für mich ab hier erst wirklich die Türkei an, zumindest wenn ich nach der Landschaft gehe. Auch wenn ich hier nicht wirklich viel auf digitalem Bildmaterial festgehalten hatte, fühlte ich mich ab dem Moment endlich wieder wohl. Eine Straße, die durchs “Nichts” führt, mit Aussicht auf schönen Landschaftsbildern.
Nach Nallihan änderte sich das Gelände noch einmal komplett, zu einem überaus beeindruckenden Bild wohlgemerkt. Aus dem Grün der vergangenen Kilometer wurde eine karge Marslandschaft, wie ich sie persönlich noch nie gesehen hatte. Was für ein toller Anblick!
Dafür war die Strecke auch wieder weitaus anstrengender. Aufgrund der fehlenden Vegetation, prallte die Sonne ungeschützt auf mich und die Straße und heizte alles extrem unangenehm auf. Gleichzeitig ging es auch nicht eben weiter, sondern weiterhin in schönen Hügelpassagen. Gerne hätte ich zu dem frühen Zeitpunkt schon mein Zelt aufgebaut, aber ohne Bäume gibt es auch keinen Schatten und anstatt bei der brennenden Hitze ungeschützt herumzusitzen, genieße ich doch lieber den Fahrtwind.
Als Ziel hatte ich deshalb den Aladagsee herausgepickt, wo ich mir sicher war, einen schönen Platz direkt am Ufer zu finden. Aber auf dem letzten Streckenabschnitt, der Abfahrt zum See, keine 500m davon entfernt, gab es plötzlich einen großen Knall und somit begann meine persönliche Tortur rund um Ankara.